TV-Hijacking bei der Hitparade der Fremdenfreundlichkeit

Eine Aktion der Straßenmusik-Gruppe "Milch & Blut"

"Xenos 1993. Fremde brauchen Freunde - wir auch." Unter diesem Motto findet am Samstag, den 12.3.1994 um 20.15 Uhr in der Hamburger Hochschule für Musik und Theater unter der Schirmherrschaft von Frau Dr. Angela Merkel, ihres Zeichens Bundesministerin für Frauen und Jugend, die Endausscheidung eines Liederwettbewerbs der Fremdenfreundlichkeit statt. Die musikalische Lichterkette im Hitparadengewand - 10 vorausgewählte Beiträge sollen sich in Sieger und Verlierer scheiden - wird live in einigen 3. Fernseh- und Radioprogrammen (u.a. NDR) übertragen. Nachdem der Versuch einer Freiburger Straßenmusikgruppe, wenigstens den Wettbewerb im Sinne einer Aufteilung der Preisgelder zu boykottieren, an der Sturheit einiger Rockbands gescheitert ist, scheint der harmonischen Demonstration eines Deutschlands der offenen Herzen (und der geschlossenen Grenzen) nichts mehr im Wege zu stehen. Auf halber Strecke läßt die Ehrengästin Frau Merkel noch ein paar Allgemeinplätze - die deutsche Jugend, ja ja - vom Stapel. Wir sind die Startnummer 9.

 Nachdem wir brav die erste Strophe unseres Liedes geträllert haben, zieht Alfred mitten im schönsten Singsang einen Telefonhörer aus der Jackentasche:

 "Seid doch mal leise! ... Ja, hier xenos 1993, die Fremdenfreunde. ... Ja, Moment ... - Jörg, es ist für Dich."

 "Ich sing doch gerade ... ! Wer ist es denn?"

 "Ein paar Ausländer."

 "Und, was wollen die?"

 "Rein."

 "Das geht nicht. Der Saal ist voll."

 "Nee, die wollen nach Deutschland rein."

 "Ist genauso voll! ... Ach komm, gib mal her! ... - Ja, hallo, wir sind hier gerade unheimlich ausländerfreundlich, und es ist nur in Eurem eigenen Interesse, wenn ihr hier nicht länger stört. ... Ja, nein, Ihr müßt das doch mal so sehen: Ihr seid doch nur solange Ausländer, wie ihr außer Landes seid; sobald ihr hier rein kommt, seid Ihr ja eigentlich Inländer. Und Inländer können wir nicht ausstehen! ... Was heißt hier aber ... ! Und überhaupt sind wir gar nicht dafür zuständig. ... (Den Hörer in Richtung Ministerin streckend) ... Frau Merkel, Sie und Ihre Partei sind doch mitverantwortlich für die Abschaffung des Asylrechts. Wollen Sie vielleicht den Leuten erklären, warum sie hier nicht rein dürfen?"

 Aber Frau Merkel schüttelt nur säuerlich den Kopf.

 "Sie will nicht. Ja, dann sehe ich nur noch eine Möglichkeit: probiert es mit der Salami-Taktik - laßt Euch schlachten und kommt als Organspende nach Deutschland. Klappt todsicher ... Ja, bitte sehr! ... Tschüs."

 Aber da wir ja nicht zum telefonieren, sondern zum singen da sind, stimmen wir noch eine Neubearbeitung eines bekannten deutschen Schlagers an: "Ein bißchen Freundschaft mit ein paar Fremden und Schubidua und Schubidu."

 Den Ton dreht man uns erst ab, als wir die Ministerin zum Mitsingen auffordern. Aber das geht unter in dem Applaus, mit dem wir nicht gerechnet haben. Überraschung, als wir dann mit einem der beiden 2. Preise von der Jury bedacht werden, die zum Teil die Veranstaltung auch etwas zweifelhaft findet. Gesteigerte Verwunderung, als wir ebenfalls den TED-Publikumspreis (so mit anrufen beim Sender) gewinnen. Wir wollten eigentlich nur unser Gesicht waren und - zugegebenermaßen - ein bißchen Spaß an der Störaktion haben. Hat man uns über die Preisverleihung doch wieder integriert? Waren wir zu soft? Oder ist es nicht gut, daß andere diese Sülz-Sendung mit ihrem vorgetäuschten Anti-Rassismus, vielleicht durch uns, auch nicht so prall fanden? Merkwürdig, daß man als "Linker" immer das Gefühl hat, etwas falsch gemacht zu haben, wenn man Zustimmung erfährt.

 

P.S.: Der gesamte xenos-Wettbewerb ist auf CD erschienen, samt unserer Störaktion (da wir es tunlichst vermieden haben, irgendeine verwertbare Aufnahme unseres vorgesehenen Beitrags abzuliefern): "xenos - Fremde brauchen Freunde. Wir auch." 1995 BMG Ariola Hamburg Gmbh (D) 74321 27155 2

 

Kontaktadresse: "Milch & Blut" c/o Jörg Isermeyer, Drosselweg 28, 23795 Bad Segeberg

 
 
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